Lawinenunfall – darum ist die Kameradenrettung entscheidend

04.11.2025

Die typische Skifahrerlawine ist rund 50-70 Meter breit und hat in etwa die dreifache Fließlänge. Die Anrisshöhe (auch Abbruchhöhe) liegt im Durchschnitt bei ca. einem halben Meter. Die meisten Menschen sterben in Lawinen durch Ersticken (ca. 57 %) oder durch tödliche Verletzungen (30 %). Grundsätzlich gilt, dass die Überlebenschancen mit zunehmender Verschüttungsdauer sinken.

In diesem Beitrag geht es um:

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Konsequenzen eines Lawinenunfalls

Man muss bei einem Lawinenabgang nicht gleich sterben und viele Lawinenunfälle gehen zum Glück glimpflich, d. h. nahezu ohne Konsequenzen aus. Häufig verletzen sich Freerider*innen aber schwer bis lebensbedrohlich. Sobald man von einer Lawine erfasst wird, ist man Passagier und kann das Ergebnis dieses Ereignisses nur schwer beeinflussen.

Deshalb gilt es, einen Lawinenabgang möglichst zu vermeiden und immer mitzudenken, welche Folgen ein Lawinenabgang in der aktuellen Situation hätte (Verschüttungstiefe, Kollisions- und Absturzgefahr, Verschüttungsdauer, Anzahl der Verschütteten und Helfer, Notruf und Flugwetter etc.).

Bei einem Lawinenunfall kommen immer mehrere Komponenten zusammen:

  • Die Kräfte, die in Lawinen wirken, sind enorm (trockene Schneebrettlawinen können Geschwindigkeit bis zu 250/300 km/h erreichen). Das bedeutet: Auch wenn man nicht gegen einen Baum oder ein anderes Hindernis prallt und/oder nicht verschüttet wird, kann man sich während des Abgangs aufgrund der enormen Massen und dadurch resultierenden Kräfte ernsthafte Verletzungen zuziehen.
  • Auch wenn man einen Lawinenabgang unverletzt übersteht, können danach Ausrüstungsteile (Ski, Snowboard) fehlen, was eine weitere Abfahrt unmöglich macht. In Kombination mit fehlender Netzverbindung, abgeschiedenem Gelände, schlechter Witterung (kein Hubschraubereinsatz möglich), einbrechender Dunkelheit etc. kann sich daraus schnell eine Notlage ergeben.
  • Ist ein*e Freerider*in allein unterwegs oder von den anderen Gruppenmitgliedern getrennt, kann bereits eine Teilverschüttung, bei der Kopf und Oberkörper frei sind, dazu führen, dass man sich selbst nicht mehr aus dem Schnee befreien kann. Gute Kommunikation in der Gruppe (Handy, Funk) und das Buddy-Prinzip (2er Gruppen, die aufeinander achten) machen sich hier bezahlt.
  • Bei einer nicht sichtbaren Ganzverschüttung (gesamter Körper im Schnee begraben) läuft die Zeit. Um die Überlebenschancen aufrechtzuerhalten, müssen in den ersten 10 Minuten der Kopf (selbstständige Atmung) bzw. der ganze Körper (keine Atmung) freigelegt werden. Während dieser ersten 10 Minuten können nur die Kolleg*innen vor Ort helfen – eine vollständige Ausrüstung und ein guter Umgang mit LVS, Schaufel und Sonde sind vorausgesetzt!
Todesursache aller Lawinenopfer, Quelle: ÖKAS © snow institute
Todesursache aller Lawinenopfer, Quelle: ÖKAS © snow institute
Todesursache Lawinenopfer, Quelle: ÖKAS © snow institute
Todesursache Lawinenopfer, Quelle: ÖKAS © snow institute

Die Grafiken veranschaulichen sehr deutlich, wie wichtig eine schnelle Kameradenrettung tatsächlich ist. Nahezu zwei Drittel (also 2 von 3) der ganz verschütteten Lawinentoten starben durch Ersticken. Unterkühlung ist dagegen von untergeordneter Bedeutung, kann aber nach dem Ausgraben beim Warten auf die Rettungskräfte sehr wohl zum Thema werden (Wärmemanagement!).

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Überlebenskurve

Überlebenskurve nach Hermann Brugger et al. 2001 (aktualisiert 2025) © snow institute
Überlebenskurve nach Hermann Brugger et al. 2001 (aktualisiert 2025) © snow institute

Die Überlebenskurve, auch statistisch als Überlebensfunktion bezeichnet, zeigt die Wahrscheinlichkeit, in einer Lawine im zeitlichen Verlauf einer Ganzverschüttung noch am Leben zu sein. Sie beschreibt einen stufenweisen Abfall der Überlebenswahrscheinlichkeit und ermöglicht eine Unterteilung der Überlebenschancen während einer vollständigen Verschüttung in vier Phasen:

Überlebensphase:

Während der ersten 10 Minuten* nach einer Verschüttung bleibt die Überlebenswahrscheinlichkeit mit rund 90 Prozent sehr hoch. In dieser Phase sterben circa 10 Prozent der Verunfallten vor allem an tödlichen Verletzungen. Laut Statistik werden ca. 50 Prozent der Verschütteten in diesen ersten 10 Minuten von den Schneemassen befreit.

*Die Zeitspanne, in der die Überlebenswahrscheinlichkeit von Lawinenopfern höher ist als 90 Prozent, hat sich laut einer Studie der EURAC von 15 Minuten auf 10 Minuten verkürzt!

Erstickungsphase:

Anschließend tritt ein steiler Kurvenabfall ein. Ungefähr zwei Drittel aller Ganzverschütteten sterben in den darauffolgenden 20 Minuten an Sauerstoffmangel.

Latenzphase: 

Ab 30 Minuten überleben nur mehr Ganzverschüttete mit ausreichender Sauerstoffversorgung. Sie sind imstande, im Schnee zu atmen, ihre Atemwege sind frei und es besteht ein genügend großer Hohlraum vor dem Mund, der eine Übersättigung der Luft durch CO₂ verhindert. In der Latenzphase versterben nur wenige Verschüttete. Die Überlebensfunktion zeigt deshalb von 30 bis ca. 90 Minuten einen sehr flachen Verlauf.

Ab 90 Minuten: 

Ab 90 Minuten Verschüttungsdauer (das entspricht ungefähr der Richtzeit für die organisierte Rettung) sinkt die Überlebenschance jedoch neuerlich ab. In dieser Phase führen drei Faktoren zum Tod: starke Unterkühlung, Sauerstoffmangel und ein Anstieg des Kohlendioxids (durch die Rückatmung der verbrauchten Ausatmungsluft).

In jenen Fällen, in denen verschüttete Personen über eine größere Atemhöhle verfügen, ihnen also ein Hohlraum vor Mund und Nase zur Verfügung steht oder sie eine Verbindung zur Außenluft haben, ist es sogar möglich, dass sie eine Verschüttung mehrere Stunden lang überleben.

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Datenerhebung

In den 1990er Jahren wurde eine Studie durchgeführt, bei der die Überlebensphase 15 Minuten ergeben hat (Falk et al. 1994). Diese Studie von Falk et al. wurde nun im Jahr 2024 neu aufgerollt.  Die Studie von Eurac Research, Schweizer Notfallmedizinern und dem Schweizer Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos liefert interessante Ergebnisse. Das Forschungsteam untersuchte Lawinendaten der vergangenen 40 Jahre (von 1643 Lawinenopfern) aus der Schweiz, die zwischen 1981 und 2020 kritisch verschüttet wurden – also mindestens mit Kopf und Oberkörper unter dem Schnee lagen. Personen, die nur teilweise oder gar nicht verschüttet waren, wurden nicht berücksichtigt.

Die Ergebnisse wurden mit Daten aus der Studie von 1994 verglichen. Beide Studien verwendeten denselben statistischen Ansatz (Turnbull-Algorithmus), um die Überlebenschancen zu berechnen.

Hier die wichtigsten Resultate:

    • Der Anteil der Überlebenden ist gestiegen: Bis 1990 haben 43,5 Prozent der Verschütteten überlebt, jetzt sind es 53,5 Prozent. Dies ist auf moderne Lawinenverschütteten-Suchgeräte, Schaufeln und Sonden, die mittlerweile Standard bei Skitouren sind, sowie vielbesuchte Lawinenkurse und immer effizienter organisierte Rettungsteams zurückzuführen.
    • Die Überlebenswahrscheinlichkeit bei Langzeitverschütteten (über 130 Minuten) ist von 2,6 auf 7,3 Prozent gestiegen.
    • Die durchschnittliche Rettungsdauer hat sich insgesamt von 45 Minuten auf 25 Minuten verkürzt. Die Bergungsdauer bei Kameradenhilfe von 15 auf 10 Minuten und die Bergungsdauer bei organisierter Rettung von 153 auf 90 Minuten.
    • Die Phase, in der die Überlebenswahrscheinlichkeit bei über 90 Prozent liegt, hat sich von 15 bzw. 18 Minuten (je nach Studie) auf 10 Minuten verkürzt. Zur Ursache der drastischen Verkürzung dieser Zeit gibt es bisher nur Hypothesen.

Dieser Artikel beruht auf folgenden Publikationen:

Rauch S, Brugger H, Falk M, et al. Avalanche Survival Rates in Switzerland, 1981-2020. JAMA Netw Open. 2024;7(9):e2435253. doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.35253.

Falk M, Brugger H, Adler-Kastner L. Avalanche survival chances. Nature. 1994;368(6466):21. doi:10.1038/368021a0.

Haegeli P, Falk M, Brugger H, Etter HJ, Boyd J. Comparison of avalanche survival patterns in Canada and Switzerland. CMAJ. 2011;183(7):789-795. doi:10.1503/cmaj.101435.

Procter E, Strapazzon G, Dal Cappello T, Zweifel B, Würtele A, Renner A, Falk M, Brugger H. Burial duration, depth and air pocket explain avalanche survival patterns in Austria and Switzerland. Resuscitation. 2016;105:173-176.

Brugger H, Durrer B, Adler-Kastner L, Falk M, Tschirky F. Field management of avalanche victims. Resuscitation. 2001;51(1):7-15.

Lehrmaterialien zum Thema: